J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe

 

"Immerhin wüsste ich gern, ob wir jemals in Liedern oder Geschichten vorkommen werden. Wir sind natürlich in einer; aber ich meine: in Worte gefasst, weißt du, am Kamin erzählt oder aus einem großen, dicken Buch mit roten und schwarzen Buchstaben vorgelesen, Jahre und Jahre später. Und die Leute werden sagen: ›Lass uns von Frodo und dem Ring hören!"

Dieser Satz stammt von dem Hobbit Sam Gamdschie aus einer Unterhaltung zwischen ihm und dem Hobbit Frodo aus dem zweiten Teil von Herr der Ringe, "Die zwei Türme". Genauer ist die Unterhaltung im achten Kapitel im Vierten Buch, "Die Treppen von Cirith Ungol" zu finden. Da sind die beiden schon weit vorgedrungen in das Land Mordor, wo die Schatten drohn. Der eine Ring muss zurück ins Feuer des Schicksalsberges, um zerstört zu werden und mit ihm sein Erschaffer Sauron, der die Welt von Mittelerde unablässig mit Bösem erfüllt und bedroht.

Der Herr der Ringe ist kein einfältiges Fantasybuch, von denen es heutzutage viele gibt. Der Professor für Philologie in Oxford und Schriftsteller J.R.R. Tolkien hat mit diesem großen Werk einen ganzen literarischen Kosmos geschaffen. Er empfand es als eine betrübliche Tatsache, dass Großbritannien nicht über eine reiche Sagenwelt wie andere Kulturen und Länder verfügt. So erschuf er eine eigene komplexe Mythologie und eine komplette Kunstsprache. Die Mythologie reicht von der Erschaffung der Welt durch Illúvatar und von der Schöpfung von allem aus der Musik der Ainur, über das Motiv des gefallenen Engels mit Melkor und dem Konflikt zwischen dem Guten und dem Bösen über mehrere Zeitalter hinweg. Der Herr der Ringe spielt im Dritten Zeitalter. Doch immer wieder greift Tolkien zurück auf das Erste und Zweite Zeitalter, deren Sagen er in einem weiteren Werk, dem Silmarillion, teils ausformuliert, teils mehr oder weniger skizziert hat. Der Herr der Ringe liest sich weitaus flüssiger und spannender. In vielem ist er ein Spiegel seiner Entstehungszeit mit den Erfahrungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und dem Kampf Großbritanniens gegen den Nationalsozialismus. Aber auch die Konflikte in jedem Individuum, die Korrumpierbarkeit durch die Möglichkeiten der Macht und die Versuche, in einer zwiespältigen Welt tugendhaft und authentisch zu bleiben, werden einfühlsam und mit großer Menschenkenntnis erzählt.

Jetzt ist eine gute Gelegenheit, sich diesem großen Werk einmal in aller Ruhe zu widmen, oder es einmal wieder zu lesen. Zum 50 jährigen Jubiläum der Erstausgabe ist eine schöne Edition mit der alten Übersetzung von Margaret Carroux bei Klett-Cotta erschienen.

Wenn man genug hat vom Blick auf die Infektionstabellen, kann man hier abtauchen in eine Geschichte, die mit all den Elben, Zwergen, Orks und Ents doch sehr menschlich ist. Der zitierte Dialog zwischen Frodo und Sam berührt die Frage nach den alten Geschichten, die wirklich wichtig sind.

»Mir gefällt hier überhaupt gar nichts«, sagte Frodo. »Weder Stufe noch Stein, weder Hauch noch Rauch. Erde, Luft und Wasser, alles scheint verwünscht zu sein. Aber unser Weg ist nun einmal so festgelegt.«
»Ja, das ist er«, sagte Sam. »Und wir würden überhaupt gar nicht hier sein, wenn wir mehr darüber gewusst hätten, ehe wir aufbrachen. Aber ich nehme an, dass es oft so ist. Die tapferen Taten in den alten Geschichten und Liedern, Herr Frodo: Abenteuer, wie ich sie immer nannte. Ich glaubte, das wären Taten, zu denen die wundervollen Leute in den Geschichten sich aufmachten und nach denen sie Ausschau hielten, weil sie es wollten, weil das aufregend war und das Leben ein bisschen langweilig, eine Art Zeitvertreib, könnte man sagen. Aber so ist es nicht bei den Geschichten, die wirklich wichtig waren, oder bei denen, die einem im Gedächtnis bleiben. Gewöhnlich scheinen die Leute einfach hineingeraten zu sein – ihre Wege waren nun einmal so festgelegt, wie du es ausdrückst. Aber ich nehme an, sie hatten eine Menge Gelegenheiten, wie wir, umzukehren, nur taten sie es nicht. Und wenn sie es getan hätten, dann wüssten wir’s nicht, denn dann wären sie vergessen worden. Wir hören von denen, die einfach weitergingen – und nicht alle zu einem guten Ende, wohlgemerkt; zumindest nicht zu dem, was die Leute in einer Geschichte und nicht außerhalb ein gutes Ende nennen. Du weißt schon, nach Hause kommen und feststellen, dass alles in Ordnung ist, wenn auch nicht ganz wie vorher – wie beim alten Herrn Bilbo. Aber das sind nicht immer die besten Geschichten zum Hören, obwohl sie die besten Geschichten sein mögen, in die man hineingeraten kann! Ich möchte mal wissen, in was für einer Art Geschichte wir sind.«

 

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