Gott ist in der Tiefe - Paul Tillich

 

In einem Religionsbuch über Glaube und Naturwissenschaft in der Oberstufe las ich ein Zitat von dem deutsch-amerikanischen Theologen Paul Tillich. Es sprach mich nachhaltig an. Gott sah er nicht als ein Wesen an, das der Welt von außen gegenüber steht. Gott ist eher in der Dimension der Tiefe in allem Dasein zu verorten.

"Das entscheidende Element in der gegenwärtigen Situation des westlichen Menschen ist der Verlust der Dimension der Tiefe. ´Dimension der Tiefe` ist eine räumliche Metapher - was bedeutet sie, wenn man sie auf das geistige Leben des Menschen anwendet und sagt, dass sie ihm verlorengegangen sei? Es bedeutet, dass der Mensch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens verloren hat, die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod."

Der lutherische Theologe Tillich gilt als einer der bedeutendsten evangelischen Denker im 20. Jahrhundert. Er begriff sich selbst als einen Denker auf der Grenze, wie er es in seinem Vortrag anlässlich der Verheihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1962 beschrieb. Mit seinem Ansatz versuchte er, die christliche Botschaft mit modernem Denken und mit den Naturwissenschaften in einem Dialog zu halten und ihre Relevanz aufzuzeigen..

Als erster nichtjüdischer Professor verlor er seinen Lehrstuhl in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus. Er emigrierte 1933 in die USA und lehrte in New York und in Chicago. Im Jahr 1948 wurde Tillich in den gesamten USA bekannt, als sein erster Predigtband "The Shaking of the Foundation" (Die Erde erbebt - in Deutschland erschien der Band unter dem Titel "In der Tiefe ist Wahrheit) erschien. Tillich traf den Ton der Zeit nach den desaströsen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und mit der bedrohlichen atomaren Hochrüstung nach dem Krieg.

Das Neue Sein

 

In der Corona-Pandemie scheint auf einmal alles anders zu sein. Es ist eine völlig neue Situation. Zugleich sind viele alte Probleme noch da und teilweise bedrängender als vor dem Ausbruch des Virus. Rassismus, Krieg und Umweltzerstörung sind nicht verschwunden, nur weil ein Virus die Welt in Schach hält. Der Ruf wurde bereits am Anfang der Krise laut: Die Pandemie ist eine Chance, grundlegende Veränderungen vorzunehmen - ein neues Wirtschaften entwickeln, einen neuen Lebensstil, erproben, ein neues Miteinander versuchen - damit das Leben eine neue Grundlage bekommt.

"Das Neue Sein" - dies ist ein zentraler Gedanke Paul Tillichs. in diesem Begriff konzentriert sich sein Ansatz, das Besondere an Jesus Christus verständlich zu machen. Der Text "Das Neue Sein" ist eine Predigt aus dem zweiten Band seiner religiösen Reden. Sie fasst gut zusammen, worin Tillich das Besondere Jesu Christi sah und den lebenswichtigen Impuls des Neuen Seins für das menschliche Leben.  

 

Paul Tillich - Das Neue Sein - Lesung

Quelle: Paul Tillich, Das Neue Sein, in: Paul Tillich, Religiöse Reden: Nachdr. von Das Neue Sein (6. Auflage 1983), Berlin; New York: de Gruyter, 1987, S. 23-32.

Die Erde erbebt

 

Seit dem Beginn der Corona-Krise ist häufig zu hören, dass die Pandemie die größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges darstellt. Noch ist nicht abzuehen, wie die Krise verlaufen und was sie der Menschheit noch alles abverlangen wird. Es ist ein Streit darüber entbrannt, ob die einschneidenden Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus nicht sogar eine maßlose Übertreibung mit noch größerem Schaden für die Gesellschaften darstellen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hielt Paul Tillich in den USA eine Predigt, die einen großen Nachklang gewonnen hat: "Die Erde erbebt". Diese Predigt eröffnet den ersten Band mit Tillichs Religiösen Reden - sie gab dem Band in der englischen Originalausgabe den Titel. In der Entstehungszeit der Predigt war der beginnende Ost-West-Konflikt und das atomare Wettrüsten bereits zu erahnen, der die folgenden Jahrzehnte prägen sollte.

Im Land der Sieger hielt der deutsche Immigrant den Menschen mit der Predigt anhand von teils düsteren Worten aus den Prophetenbüchern einen verunsichernden und beunruhigenden Spiegel vor Augen. Tillich interpretiert die Zeit als einen grundlegenden Epochenwechsel mit dem möglichen Ausgang des Endes und des völligen Untergangs. Obwohl er die bedrohliche Perpektive mit ihrer dissonanten Wirkung nicht harmonisch auflöst, vermag Tillich Mut und Zuversicht zu vermitteln mit dem Hinweis auf das Unbedingte, das unser Dasein mit Tiefe und Sinn erfüllt.

In einer Situation mit ungewissem Ausgang wie die derzeitge Krise und dem Konflikt um ihre Einschätzung ermöglicht die Rede einen Blick darauf, wie Tillichs Predigt in der Zeit einer wirklich einschneidenden Bedrohungssituation Menschen Mut zu geben imstande war. Vielleicht kann die Predigt helfen, die eigenen Erwartungen und Ängste gerade zu rücken.

Paul Tillich - Die Erde erbebt - Lesung

Quelle: Paul Tillich/August Rathmann (Hg.), Die Erde erbebt, in: Paul Tillich, Religiöse Reden: Nachdr. von In der Tiefe ist Wahrheit (9. Auflage 1985), Berlin; New York: de Gruyter, 1987, S. 7-16.